Zu Groddecks 130. Geburtstag wurde am 13. Oktober 1996
im Schlosshotel Bühlerhöhe ein kleines psychoanalytisches Mittagessen
gereicht. Der Andrang zu diesem Ereignis war so groß, dass der Chefkoch
Pellkofer bereits im Vorfeld die Zahl der Gäste auf 130 beschränken
musste. Die vielen Taxifahrer von Baden-Baden hoch auf die Bühlerhöhe
hatten ihren Festtag, die Gäste ihr diätetisches Festmahl.
Die Speisefolge war den Essensgewohnheiten in Groddecks Sanatorium Marienhöhe
nachgekocht: Serviert wurden die Gänge auf kleinen Tellern - das Puppengeschirr,
das in der Marienhöhe den Patienten vorgesetzt wurde, war nicht aufzutreiben
-, die Gerichte waren winzig, das Essen auf mehrere Stunden angelegt. Groddecks
Rezept, bei den Patienten die Lust am Essen durch kleine Häppchen zu
wecken und diese mit diätetischen Maßnahmen zu verbinden, sollte
hier nacherlebt und -erduldet werden. Vor jedem Gang trug Otto Jägersberg,
dem die Gäste dieses Fest zu verdanken haben, groddecksche Ansichten
vor zu Entfettungs- und Entschlackungskuren, zu Diäten, Kauen und Verdauen,
zu Schlucken oder Schlafen.
ES(S) ICH NICHT war Entrée und programmatisch zugleich: den Widerstand
geweckt, die Kränkung durch Freud aufgedeckt, nun konnte sie endlich getilgt werden.
DER DOKTOR KOMMT, der Karikaturenfolge
von 1926 entnommen und nicht ohne Drohung: Groddecks Schädel aus
Tomate geschnitzt, die riesigen Ohren aus Gurkenscheiben mit Sauce Vinaigrette - gleich rein damit.
SAUMAGEN SATANARIUM, ganz ohne staatsmännische Weihe die Spezialität
bereits in der Marienhöhe, bekam hier frische Tannennadelspitzen beigestopft.
Die SCHICKSAL-DAS-BIN-ICH-SELBST-Suppe mit ANNASYLIE wurde zum ersten Höhepunkt
des Festes: Als Einlage hatte der Chefkoch aus den Buchstabennudeln allein
E und S zugelassen. ES durfte also laut geschlürft werden und Annasylie
schwamm statt Bruder Peter oben auf.
SONNE IM MOND brachte strombolisch die Huldigung an das Es in Fellinis Film E la nave va in Erinnerung.
JUNGES GEMÜSE ALS SYMBOL und EPIGRAMM VOM LAMM GRÜNE WIESE waren
Reminiszenzen an Groddecks Buch Der Mensch als Symbol und an die Ausflüge
der Patienten und ihres Doktors, bei denen auf den Wiesen vor Baden-Baden
Stegreif- und Schäferspiele aufgeführt und in Epigrammen kommentiert wurden.
STAMPFKARTOFFELN WILDES HEER klang üppiger, als es dann auf dem Tellerchen
war. Das wilde Heer der Analytiker, dem Groddeck durch Freud zugeordnet worden
war, hätte hier nichts zu beißen gefunden, wohl aber im Zwischenreich
von Kartoffel und Brei sich rettungslos verlieben gekonnt.
Das UNBEHAGEN-AN-DER-KULTUR-GULASCH war zart und wider Erwarten leicht verdaulich,
DAS ACHTE DING wurde flüssig serviert, und es bliebt UNGESAGT, ob es
gelöffelt oder lieber getrunken werden wollte.
Die SCHÜLERERINNERUNGEN EINES PFÖRTNERS holten die ersten Liebeszeichen
aus Groddecks Internatszeit in Schulpforte hervor,
die ARCHE BLAUE KÖNIGIN war der kleinste Kuchen, den ein Teller je gehalten.
Ihre Früchte - Bühler Zwetschgen selbstverständlich - waren
auch für Groddeck guter Anlaß gewesen, sich in seiner Zeitschrift
DIE ARCHE über das Erotische am Kuchen weitläufig zu äußern.
Das GEFRORENE ES AN MINZE, nicht weniger als gestoßenes Eis mit Minzeblättern, und die
PETITS FOURS, mit denen Margaretha Honegger, Mitarbeiterin Groddecks und spätere
Nachlaßverwalterin, ihre Gäste in Zürich gern verwöhnte,
waren der Auftakt für ein letztes Genießen:
ESPESSO ZENO COSINI mit einer Zigarre á la Italo Svevo und der Blick
von der Terrasse der Bühlerhöhe hinüber zu den Vogesen, wo
die Sonne gerade versank.
An alkoholischen Getränken waren ausschließlich zugelassen die
Sonderfüllung Seelensucher im Bocksbeutel, Riesling trocken, zu Ehren
Georg Groddecks, und das Bier Dr. Grobian, das seinen Namen aus Groddecks
Übernamen entliehen hatte. Dr. Grobian nannten ihn die Patienten, und
wir wissen, wie ungewöhnlich er massierte. Für die Freunde des stillen
Wassers wurde Quellwasser tagfrisch von der Hornisgrinde serviert. Die Hornisgrinde
war immer wieder Ausflugsziel und Wanderstation für Groddeck. Ein Sturz
beim Aufstieg von Sasbachwalden hoch zur Hornisgrinde 1922 hatte ihm reiche
Assoziationen beschert, die er Freud unverzüglich in einem Brief mitteilte.