Seelensucher
Weilburg 2014
Zwischen Pflicht & Kür
Der frühe Georg Groddeck in Weilburg an der Lahn 1894—1896
Vortragsreihe in Weilburg an der Lahn
Altes Rathaus, Raum Nassau (Programm siehe Flyer)
3. & 4. Oktober 2014
Georg Groddeck
während seiner Zeit in
Weilburg an der Lahn
  Georg-Groddeck
   
Georg Groddeck – seine Zeit in Weilburg an der Lahn
Als junger Arzt wird er 1894 nach Weilburg an die Unteroffiziersvorschule abkommandiert (heute ist in dem Gebäude die Feuerwehr untergebracht). Seine Aufgabe ist, die Anwärter für die Unteroffizierslaufbahn ärztlich zu versorgen und mit Vorträgen zu medizinischen Themen aufzuklären. Eine Reihe kleinerer und größerer Aufsätze entstehen in dieser Zeit (abgedruckt in Ketzereien. Schriften zum Arzten und zur Medizin 1889–1909).
Seine militärärztlichen Pflichtjahre sind ihm dauerndes Hindernis beim Bestreben, sich als selbständiger Arzt niederzulassen und die eigenen Vorstellungen vom Arzten zu ent­wickeln. Er kämpft um seine vorzeitige Entlassung aus dem Militär, was ihm 1896 gelingt. In Weilburg hat er seine erste Frau, Else von der Goltz – zuvor mit dem dortigen Landrat verheiratet – kennengelernt. Mit ihr geht er nach Berlin und arbeitet ein Jahr als Assistent seines verehrten Lehrers Prof. Dr. med. Ernst Schweninger, sammelt reichlich Berufs­erfahrung und verfaßt in dessen Auftrag zahlreiche Artikel über medizinische, soziale und gesellschaftliche Themen.
In seiner Weilburger Zeit hat Groddeck auch Tagebücher geschrieben und einen umfang­reichen Briefwechsel mit Ernst Schweninger geführt. Über beides – Tagebücher und Brief­wechsel – wird am Freitag Nachmittag im Alten Rathaus, Raum Nassau referiert.
Seine selbständige ärztliche Laufbahn beginnt Groddeck dann 1897 in Baden-Baden. Sein Sanatorium „Marienhöhe“ öffnet 1900 und wird bald der Ort für chronisch Leidende. Kranke aus allen Ländern kommen, sein Ruf als unorthodoxer Arzt, genialer Masseur und geduldiger Zuhörer bei den Leidensgeschichten seiner Patienten wächst. Er schreibt Romane, betätigt sich als Sozialreformer in seiner Stadt, gibt Zeitschriften heraus, in denen auch die Patienten das Wort haben, entdeckt die Psychoanalyse und entwickelt daraus eine Sicht- und Behandlungsweise, die später Psychosomatische Medizin genannt wird.
Verweilen in Weilburg
Impressionen von und Erinnerungen an Georg Groddeck
Wie kommt Groddeck nach Weilburg? Die idyllische, wenn auch durchaus der Jetztzeit tribut­pflichtige Residenzstadt Weilburg ist durch sein Renaissance-Schloss und die dortigen Schloß­konzerte bekannt und ein pittoreskes, seltenes Beispiel einer deutschen Klein­residenz des Absolutismus, jahrhundertelang vom Adelsgeschlecht Hessen-Nassau ge­prägt. Allerdings wurde das Herzogtum Nassau nach dem Krieg von 1866, den Nassau auf Seiten Österreichs gegen Preußen führte, vom siegreichen Preußen annektiert. Das ist letzt­lich der Grund dafür, dass wir hier erstens von Februar 1894 bis März 1896 Georg Groddeck antreffen und zweitens 120 Jahre später die diesjährige Mitgliederversammlung der GGG in Weilburg stattfindet. Die Preußen – und damit wohl auch Groddeck – waren als Besatzer weder sonderlich beliebt noch zeigten sie ein besonderes Integrationsbedürfnis, und so finden sich auch wenig Spuren und Belege für Groddecks Zeit in Weilburg, die damit in tiefes, nun etwas gehobenes Vergessen geraten ist.
Tagungsort war, in mildes Herbstlicht getaucht, der Raum Nassau des merkwürdigen, Kirche und Rathaus gemeinsam beherbergenden und dabei einen älteren Glockenturm ein­schlie­ßenden Barockbaus auf dem Marktplatz, direkt am Schloss mit seinen ausge­dehnten Park­anlagen. Etwa dreißig Groddecksen hatten sich pünktlich eingefunden. Nach der Begrüßung durch Walter Krause und Michael Giefer zitierte Wolfgang Martynkewicz in seinem Vortrag „Nachmittags Stromtid, Stadtrat Flesch. Lawn Tennis“ aus den die Weil­burger Zeit reflek­tierenden, demnächst vollständig editierten Tagebüchern, die seinen Alltag illustrieren. Groddeck bewegte sich, wie aus den Tagebuchaufzeichnungen hervor­geht, mehr in den militärischen und administrativen Kreisen, vor allem ging er bei dem frisch eingesetzten Landrat Friedrich von der Goltz ein und aus, davon später mehr. Aus seiner Korrespondenz mit Ernst Schweninger referierte Michael Giefer über die Art und Weise, wie sich Groddeck als Sprach­rohr für Schweninger exponierte und von ihm Hilfe, nicht nur bei der Entlassung aus dem verhassten Militärdienst, sondern auch für eine zu­künftige Anstellung als Mitarbeiter er­hoffte: „Da haben Sie endlich einmal wieder eine rechte Ketzerei!“ Selbst eine richtige Krank­heit hätte Groddeck sich anhängen lassen, um nur ja den ungesunden Soldatenrock loszu­werden, zu dem er sich zur Finanzierung seines Studiums hatte verpflichten lassen.
Ein Konzert mit der hinreißenden Sopranistin Cordula Stepp und dem einfühlsamen Pia­nisten Klemens Althapp entführte in das Haus des Friedrich Freiherr von der Goltz (1858–1905) aus Burgsteinfurt, Landrat des Oberlahnkreises von 1893–1900, also kaum länger in Weilburg als Groddeck selbst. Seine Privatwohnung befand sich im Obergeschoss seines Amtes, und seine sehr viel jüngere Frau Else, Mutter eines Sohnes und einer kleinen Tochter, war musisch be­gabt und führte einen kleinen Salon. Otto Jägersberg zitierte aus den Weilburger Tage­büchern, wie Groddeck dort die Musik entdeckte, und wurde dabei untermalt von damals gängigen Liedern von Grieg, Beethoven, Schumann, Mendelssohn, Zelter und, aus dem Weil­burger Rahmen fallend, zum Abschluss von Reinhold Becker, der Groddecksche vaterländische Texte beim Festspiel des Badischen Künstlerfestes 1909 vertonte. Groddecks große Liebe zu Else kommt aus den Tagebuch­aufzeichnungen nicht so richtig zur Sprache, wie er das nun genau geschafft hat, dem höchsten Magistraten vor Ort seine Frau zu entreißen – und was dieser dazu gesagt hat? Das „Ende vom Lied“ ist ja bekannt.
Anschließend konnte man im Abendsonnenschein in den dreiterrassigen barocken Schloss­gärten lustwandeln, wobei besonders der Herkules-Antaiosbrunnen Aufmerksamkeit er­regte, Herkules bemerkte, dass die Stärke des Riesen Antaios von seiner Mutter Gaia, der Erde, kommen musste, hob ihn hoch und konnte ihn so, seiner Kräfte beraubt, erwürgen. Dass der barock erscheinende Brunnen erst 1967 angelegt wurde, tat der Wirkung keinen Abbruch (das habe ich auch erst später nachgelesen). Zum Abendessen traf man sich, auf Einladung der Gesellschaft, im Rittersaal des vornehmen Schlosshotels in der ehemaligen Ecurie, wieder. Etwas verloren wirkten die großen runden Tische in den hohen kühlen Hal­len, an denen ohne weiteres Redenschwingen oder musische Beiträge alsbald munter ge­plaudert und vom Buffet gespeist wurde.
Auch der nächste Tag zeigte sich sonnig und warm. Der Bürgermeister von Weilburg, Hans-Peter Schick, überraschte mit der Ankündigung, eine Gedenktafel nach den Vor­stell­ungen der GGG an der Hainkaserne anbringen zu wollen, um so den wiederentdeckten „Sohn der Stadt auf Zeit“ gebührend zu ehren. Und die Literaturwissenschaftlerin Galina Hristeva stellte uns Georg Groddeck als Grenzgänger und enfant terrible der Psycho­analyse vor.
Der Stadtrundgang zu den Groddeckschen Anknüpfungspunkten beendete den öffent­lichen Teil der Tagung: So, da hat er also dem Landrat seine Frau ausgespannt. Und da hat er vom Aussichtspunkt Kanapee auf die Stadt geblickt. Und da hat er seine Unter­offiziere unterrichtet: in erster Hilfe, nach dem Motto: „Nichts thun ist tausendmal besser als zuviel thun“, oder, etwas genauer, „Es ist ein wahres Glück, dass diese Leute die an­ge­lernte Weisheit fast stets innerhalb weniger Wochen vergessen, so daß sie sich im Augenbick des Unglücks nicht eben sich zum Helfen berufen fühlen. Die wenigen, die noch Reste des im Unterricht erlernten zurück behalten haben und die ehrgeizig genug sind, ihrer Kenntnisse an den Mann zu bringen, richten meist Unheil an.“ Dieses „Primum nil Nocere“ aus seinen soeben erschienen „Ketzereien“ ist auch heute noch Warnung und Botschaft zugleich.
Wie ging es weiter? Groddeck kam vom Militärdienst frei, zog zurück nach Berlin, heiratete Else von der Goltz und übernahm auch gleich aus der Ehe mit dem Landrat die Tochter Ursula und den Sohn Joachim, der ein gutbadischer Dichter wurde. Dieser Teil der Familien­geschichte muss noch ausgegraben werden.
Stephan Heinrich Nolte
Oktober 2014
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